Wie passen Fotografie und Höhenangst zusammen? Theoretisch gar nicht. In der Vergangenheit fiel mir auf, dass ich gar kein Problem mit Höhe jedweder Art habe, wenn sich unter mir Wasser befindet. Ich springe von Klippen oder balanciere über Geländer eines Piers. Es ist mir gleichgültig, wie tief das Wasser ist oder wie weit es runter geht, bis ich das Wasser erreichen würde, sofern da einfach Wasser (und kein Beckenrand wie beim Sprungturm im Freibad) ist. Spannend wird es jedoch, wenn ich festen Boden unter mir habe. Da reicht es schon, auf einen Hocker zu steigen und ich werde sichtlich nervös. Schlimm wird es dann, wenn sich in meiner Gegenwart auch noch ein Mensch befindet, der der Meinung ist, mich stützen oder festhalten zu wollen. Oder der vielleicht ein wenig hektisch oder zappelig ist.
Eine kleine Anekdote: Ich habe eine zeitlang in einem Antiquariat für Bücher gearbeitet. Dieser Job hat mir super viel Spaß gemacht, brachte aber ein Problem mit sich. Ich musste in schöner Regelmäßigkeit auf eine Trittleiter steigen, um an die oberen Regalbretter zu kommen. Wenn also Kunden oder der Chef um mich herum waren, war das ein Ding der Unmöglichkeit und ich musste warten, bis ich den Gang wieder für mich allein hatte. Nach etwa einem halben Jahr bekam ich ein wenig Sicherheit und Vertrauen in den Tritt und meinen Gleichgewichtssinn. Aber wann hat man bei der Fotografie schon mal ein halbes Jahr Zeit, sich regelmäßig mit derselben örtlichen Begebenheit zu befassen?
Immer wieder gab es Situationen, in denen Fotografie und Höhenangst kollidierten, in denen ich mit der Kamera unterwegs war und mich an Steilhängen oder Klippen wieder fand. Egal, ob ich auf Burg Teck oder der Ruine Reußenstein war. Auch vor der Kamera stand ich auf Mauern, bröckeligem Geröll oder kletterte auf Hochstände – so geschehen auf der Minneburg Neckargerach oder Schloss Ebersberg. Wichtig war hier immer: Es durfte keiner der Fotografen in meiner unmittelbaren Nähe sein. Von anderen Besuchern mal ganz abgesehen. Ich musste mir die Zeit nehmen können, mich in Position zu begeben, kein Druck, keine Hetze und wenn ich Stopp sagte, hieß das Stopp.
Auf der Minneburg gab es dann sogar die Situation, dass ich nicht mehr runter kam. Es war nicht mal sonderlich hoch. Aber einer der Fotografen musste mich holen und Huckepack von diesem Geröllhaufen tragen, sonst säße ich vermutlich immer noch dort.
Als Fotografin ist es indes ein klein wenig einfacher. Meist schickt man Models in die dementsprechende Richtung, hält sowieso Abstand und kann sich zur Not auch mal am Stativ festhalten. Interessant wird es jedoch bei Locationfotografie. Gerade, wenn man Lost Places besucht, die sowieso meist nicht sonderlich sicher sind, sehe ich mich immer wieder mit der Situation konfrontiert, dass ich irgendwo hoch muss oder es sehr tief runter geht. Das bringt das Blut ziemlich in Wallung.
Am 30.04.2023 erklärte ich mich selbst dann vollends für verrückt. Ich weiß ja aus Erfahrung, dass ich für ein Foto sehr viel auf mich nehme. Ich klettere, krabble, krieche, laufe in Position. Es ist mir gleichgültig, wie dreckig die Klamotten später sind – wofür gibt es eine Waschmaschine? Aber an diesem Sonntag wollte ich spontan in den Landschaftspark Duisburg-Nord. Das erste Mal habe ich von diesem Areal gehört, als ich 2009 aus München zurückkam und einen Menschen aus Nordrhein-Westfalen kennen lernte. Er stammte ursprünglich aus Mettmann bei Düsseldorf. Immer wieder erzählte er mir davon und versprach, irgendwann mit mir dorthin zu fahren. Dieser Mensch ist mittlerweile gestorben. Den Landschaftspark hatten wir nie zusammen besucht. Letztes Jahr unterhielt ich eine Beziehung zu einem Menschen in Hamm. Uns wurde empfohlen, mal mit dem Motorrad in den Landschaftspark zu fahren. Er sei ein tolles Ziel und immer eine Ausfahrt wert. Da ich zum damaligen Zeitpunkt mit schweren Nachwirkungen eines doppelten Bandscheibenvorfalls zu kämpfen hatte und er auch nicht gerade vor Gesundheit sprühte, verschoben wir diese Ausfahrt auf unbestimmte Zeit. Nach der Trennung verabschiedete ich mich vom Gedanken, jemals in den Landschaftspark zu kommen.
Nun befinde ich mich derzeit wieder in Nordrhein-Westfalen. Diesmal in Mönchengladbach. Ich unterstütze hier einen Freund und Kollegen und nutze die Zeit, um mir Gedanken um meine Zukunftsplanung zu machen. Im Zuge dieses Aufenthalts gab es natürlich auch einige Kurztrips, z.B. nach Roermond oder Den Haag in den Niederlanden. Am 30.04. wollten wir dann zusammen ins Kino. Der Film, den wir uns ausgesucht hatten, lief entweder spät nachts in einem Kino hier direkt in der Nähe oder nachmittags in Duisburg. Nach dem Kino hatten wir noch so unendlich viel Zeit. Das Wetter war toll und ich stellte fest, dass wir auf Wurfweite zum Landschaftspark waren. Spontan beschlossen wir, dort einen Abstecher zu machen. Im Ländle sagen wir dazu „Nur amol gugga“. Ich wollte einfach wissen, was an diesem Areal so besonders war. Doch kaum fuhren wir an einer der Einfahrten vorbei auf der Suche nach einem Parkplatz, schwankte mein Entschluss, einfach nur zu gucken. Als wir dann ausstiegen, war schnell klar, dass ich das Gelände nicht ohne Kamera betreten würde.
Wir stromerten also durch das Industriegelände und schauten uns um. Irgendwann entdeckte ich etwas oberhalb von uns einen Herrn, der ebenfalls fotografierte. Ich fragte ihn, wo er da hoch gekommen war und folgte ihm. Wir trafen uns an einem Gittersteg und fachsimpelten etwas. Er empfahl mir den Hochofen 5 zu besteigen. Von dort hätte man eine phänomenale Aussicht. Während er noch schwärmte, schluckte ich bereits und hoffte insgeheim, dass es schon zu spät und der Aufstieg bereits geschlossen war. Dort angekommen, stellte ich aber fest: nein, wir konnten noch rauf. Nun stand ich also an dieser Treppe, die einerseits steil nach oben und andererseits noch steiler nach unten führte. Noch hatte ich festen Boden unter den Füßen. Neugier kämpfte gegen Höhenangst und gewann. Es ging zuerst ganz nach unten, weil ich unbedingt von dort aus ein Foto machen wollte. Danach ging es 70m in die Höhe. Die Stiegen waren so ausgetreten, dass mit Schweißnähten nachgebessert werden musste, um die Sturzgefahr zu reduzieren. Man konnte zwischen den Stiegen hindurch sehen, was meinem Schwindel nicht gerade zuträglich war. Auf halbem Weg wurde mir siedendheiß bewusst, dass ich das alles wieder runter gehen müsste. Ich wünschte mir ein Sicherungsseil.
Als ich endlich oben angekommen war, zitterte ich am ganzen Leib, mir ging die Pumpe so sehr, dass ich befürchtete, jeden Moment einen Herzinfarkt zu bekommen. Doch dann klarte mein Blick auf und ich hatte wirklich eine phänomenale Aussicht über das gesamte Areal und einen Teil von Duisburg. Der andere Fotograf hatte Recht behalten.
Der Abstieg war dann ungleich einfacher. Wie sagt man in der Luftfahrt so gern? Runter kommen sie alle. Irgendwie. Ich kam auf meinen zwei Beinen runter, indem ich mich immer am innenliegenden Geländer orientiert hatte. Bloß nicht nach unten schauen. Die restlichen anderen Besucher, die noch auf dem Hochofen 5 herumkletterten, waren allesamt super sympathisch und empathisch. Keiner hat sich beschwert oder auch nur doof geguckt, weil ich völlig verkrampft versucht habe, mir beim Abstieg nicht den Hals zu brechen. Ich stieß überall auf Verständnis und Geduld. Das war eine tolle Erfahrung.
Mein Resümee dieser Aktion? Fotografie und Höhenangst schließen sich nicht zwangsweise aus, wenn man gewillt ist, sich dieser Angst immer wieder zu stellen. Man wird mit unfassbaren Aussichten belohnt; man bekommt Bilder, die man ohne diesen Mut nicht bekommen hätte. Wichtig ist allerdings immer, dass man seine Grenzen kennt und sich von niemandem dazu drängen lässt, diese zu überschreiten. Wenn nichts mehr geht, ist das genauso in Ordnung. Das Wissen, jederzeit aufhören zu können, befreit ungemein. Dass ich danach noch über eine Stunde weiterzitterte, verraten wir einfach keinem.